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„200 Jahre Diözese Tecklenburg“: Gelebte Solidarität der Gemeinden trotz abrupter geschichtlicher Wechsel in der Gründungszeit

„Bevor wir uns gleich dem Gedenken eines Ereignisses unserer Kirchengeschichte widmen und an den 9. Juli 1818 erinnern, die Gründung der Diözese Tecklenburg und was daraus geworden ist, müssen und wollen wir uns an einem Tag, der das Datum 9. November trägt, auch der deutschen Geschichte widmen“, betonte Synodalassessor Jörg Oberbeckmann zur Eröffnung der Festveranstaltung in der Ev. Stadtkirche Lengerich.

Mit dem Angriff auf die Juden, ihre Synagogen, ihre heiligen Schriften und ihr wirtschaftliches und soziales Leben am 9. November 1938 habe das NS-Regime das Ziel offengelegt, mit dem jüdischen Volk auch die Erinnerung und den Glauben an den Gott Israels auszulöschen. Zur Wahrheit gehöre auch der fast 2000 Jahre währende Antisemitismus der christlichen Gemeinschaften. Die Kirchen hätten in ihrer Mehrheit diese Verbrechen an den Juden in mutlosem Schweigen geschehen lassen und sich mitschuldig gemacht. Der Weg der Umkehr in den letzten Jahrzehnten zeige sich im fruchtbaren christlich-jüdischen Dialog und in der Erklärung der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Holocaust. Gedenken heiße umkehren, betonte Oberbeckmann. „Im Gedenken wird das Nichts dem Nichts entrissen. Es wird zurückgebracht ins Leben“. Dies sei ein Akt des Glaubens.

„Gottes Wirken umfängt die Zeiten – auch dann, wenn unser eigenes menschliches Tun und Denken meilenweit von seinem Willen entfernt ist“, unterstrich Superintendent André Ost anschließend in seiner Begrüßung. Die Anfänge der Ev. Diözese Tecklenburg seien nicht erst 1818, sondern wohl eher im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Reformation, zu finden, betonte André Ost. Ein Synodenwesen habe es auch schon lange vorher gegeben, insofern sei die Kirchenkreisgründung vor 200 Jahren eigentlich „nur“ ein obrigkeitlicher Akt zur kirchlichen Neuorganisation und kein wirklicher Neubeginn gewesen. „Der Kirchenkreis ist heute eine wichtige Ebene gemeinsam gelebter kirchlicher Solidarität“, unterstrich er. Mit dem Begriff „Diözese“ wurde im Jahr 1818 in der Provinz Westfalen eine neue regionale Kircheneinteilung vorgenommen. Die Diözese Tecklenburg bildete zusammen mit 15 anderen Diözesen die neue Kirchenprovinz Westfalen. Sie umfasste damals 17 Kirchengemeinden: Tecklenburg, Ledde, Leeden, Lengerich, Brochterbeck, Ibbenbüren, Lotte, Wersen, Cappeln, Mettingen, Recke, Schale, Lienen, Ladbergen, Steinfurt, Coesfeld und Gronau.

„Wenn wir in unseren Tagen Klagen hören über sich immer schneller entwickelnde bedrohlich erscheinende Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und auch der Religion, dann verblasst dies ziemlich schnell, sobald man sich mit den Lebensverhältnissen in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts befasst“, führte Referent Prof. Jürgen Kampmann (Ev. Fakultät der Universität Tübingen) anschließend in seinem Festvortrag aus. Anschaulich und detailgenau stellte der Kirchenhistoriker die Ziele und Probleme beim Aufbau der kirchlichen Leitung und Verwaltung in der neuen preußischen Provinz Westfalen dar. Anfangs prägten Ereignisse wie die Napoleonische Zeit, die Befreiungskriege und das sog. „Jahr ohne Sommer“ 1816 die Menschen, gepaart mit einem absolutistischen Staatsverhältnis. Siegesfreude, Existenzangst und Trauer folgten in kurzen, abrupten Wechseln aufeinander. Sie berührten den Alltag, aber auch das kirchliche Leben. 1815 wird die Provinz Westfalen eingeführt, die Oberprovinz wird Münster. Auf Anregung des Oberpräsidenten Ludwig Freiherr von Vincke wird am 22. Dezember 1815 nach einigen Wirren eine Präseswahl für Tecklenburg-Oberlingen initiiert, die „gründlich schief läuft“. Bei einem erneuten Anlauf wird Pfarrer Ernst Werlemann aus Wersen mit Wirkung vom 1. Februar 1816 zum Superintendenten gewählt. Am 1. Juli 1817 werden 36 Landkreise und die kreisfreie Stadt Münster geschaffen. Wie in der staatlichen Provinzverwaltung sollten auch für das evangelische Kirchenwesen in der Provinz solche Ebenen zwischen den Kirchengemeinden und dem Konsistorium eingerichtet werden. Für den Bereich der Grafschaft Tecklenburg und die Gemeinden in Oberlingen (Ibbenbüren, Mettingen, Recke und Brochterbeck) war das nichts Neues. Regelmäßig wurden zuvor bereits jährlich bis 1807 Visitationen in allen Kirchengemeinden durchgeführt.

Nach Gründung der Diözese Tecklenburg traf sich die nur aus Pfarrern bestehende Synode erstmals am 21. und 22. Juli 1818 in Lengerich unter Leitung von Superintendent Werlemann. Ein Thema der Tagesordnung war das Verbot der „nächtlichen Spinnereyen“: Man klagte darüber, „dass es den jungen Leuten verstattet wird, dem zweyten Festtag (der hohen Feste) mit Tanzen bis mitten in die Nacht zuzubringen“. Durch die Errichtung von Kirchenkreisen und das Wirken der Synoden, so Prof. Kampmann abschließend, hätten die Gemeinden eine geistliche Verbundenheit untereinander erfahren, die es vor 1818 so nicht in gleicher Kontur gegeben habe.

Einen ausdrucksstarken musikalischen Rahmen setzten die Organistin Sabrina Büthmann (Münster) und Kantor Christoph Henzelmann (Lengerich) an der kraftvollen Breidenfeld-Klais-Orgel (1835-2003). Sie vermittelten spannende Eindrücke mit Werken vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Publikum honorierte den eindrucksvollen Vortrag und das musikalische Programm mit ausgiebigem Applaus. Bei Sekt und Fingerfood tauschten sich die Gäste anschließend über die Impressionen des Abends aus.  

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