Unsere aktuellen Nachrichten auf einen Blick

Kirche auf dem Land in Corona-Zeiten: das Pfarrerehepaar Annette und Roland Wendland berichtet aus der Gemeinde Schale:

„Die Maskenpflicht hat uns hier auf dem Dorf sehr verunsichert, denn wir haben zwar Masken, wissen aber nicht, wo wir dieses „ÖPNV“ herbekommen sollen.“ Wer mit solchen Worten über sich selber schmunzeln kann, dem geht es im Großen und Ganzen noch gut. Und in der Tat lebt es sich nach Meinung unserer Gemeindeglieder gerade in der Krise auf dem Land besser als in der Stadt: hier ist Platz, hier ist Luft, hier ist Weite.

Die Kinder brauchen nicht unbedingt einen Spielplatz, sondern vergnügen sich auf dem Bauernhof oder fahren bei Papa auf dem Trecker mit – und wenn es nur der Rasenmäher-Trecker ist. Die meisten Menschen leben in recht großen Häusern mit Garten, auch da gibt es kein Gefühl der Enge. Es gibt viel Natur um das Dorf herum und so herrscht eine beeindruckende E-Bike-Dichte auf den Wegen durch die Naturschutzgebiete. Kaum jemand wohnt ganz allein, und so gibt es selten das Gefühl der Einsamkeit. Die sozialen Kontakte sind zwar reduziert, aber nach wie vor vorhanden.

Das Miteinanderleben und Füreinander sorgen, das auch sonst das Leben des Dorfes prägt, gibt es jetzt natürlich auch, zum Beispiel im Bringeservice der Landjugend für ältere Menschen. Oder man bestellt sonntags ein Mittagessen zum Abholen bei der örtlichen Gastronomie, um deren wirtschaftliches Überleben zu gewährleisten. Allgemeine Krisensymptome halten sich in Grenzen. Es gab in Schale nur eine Covid 19-Infektion, und die verlief sehr glimpflich.

Merke: Was in „normalen“ Zeiten gut ist, bewährt sich auch in der Krise. Aber natürlich gibt es schon Veränderungen in Corona-Zeiten.

„Ich komme nirgendwo mehr hin.“ (Mann, 82 Jahre, alleinstehend).

Dieser Satz stimmt nicht so ganz: Der Mann ist nach wie vor mobil mit Auto und E-Bike. Aber ihm fehlt die Gemeinschaft mit anderen, die Geselligkeit auf Festen und Feiern. Was die Menschen vermissen, ist das Zusammenkommen in Gruppen und Kreisen. Mitglieder des Posaunenchores haben sich Ostern an der Flashmob-Aktion „Christ ist erstanden“ beteiligt. Aus den Einzelbeiträgen ist ein schönes Video zusammengeschnitten worden, auf das die Mitglieder des Chores stolz sind. Trotzdem schrieb ein Mitglied des Posaunenchores unmittelbar danach in die WhatsApp-Gruppe: „Hoffentlich können wir bald wieder zusammenspielen!“ Damit gab er sicherlich den Wunsch aller Mitglieder des Chores wieder. Dasselbe gilt für die Vokalchöre, die Frauenhilfe, das Senioren-frühstück, den Kirchenkaffee.

Abgesehen von der Wiederaufnahme der Gottesdienste können die Menschen nicht mehr zur Kirche kommen, aber die Kirche versucht nach wie vor zu den Menschen zu kommen: zu Ostern haben wir an alle Haushalte einen schriftlichen Ostergruß verteilt. Wir telefonieren mit unseren Gemeindegliedern und schreiben ihnen. Vor allem aber gibt es nach wie vor Geburtstagsbesuche, allerdings in etwas anderer Form: Pastor Wendland baut sich mit seiner Posaune in 5 Meter Abstand vor der Haustür des Jubilars auf, klingelt und dann gibt es zuerst das Ständchen „Viel Glück und viel Segen“. Nach dem Überbringen der Glückwünsche dürfen sich die Geburts-

tagskinder Lieder wünschen. Weil sich das Ganze herumgesprochen hat, ziehen manche Senioren dann Zettel aus der Tasche mit ihren Liedwünschen. Die Nummer eins im Ranking ist „Nun danket alle Gott“, gefolgt von „Nun danket all und bringet Ehr“ und „Von guten Mächten“. Die Liedauswahl lässt auf eine grundsätzliche Dankbarkeit und Zufriedenheit der Senioren schließen. Nicht unbedingt im Blick auf die derzeitige Situation, aber auf das eigene Leben. Diese Art der Kontaktaufnahme seitens der Kirche kommt bei den Leuten sehr gut an. Auch Angehörige katholischer Familien haben schon nachgefragt, ob dieser Service auch für ihre Leute buchbar wäre – na klar! Und man merkt auch, wie sehr die Leute reden wollen und einen am liebsten gar nicht mehr gehen lassen möchten.

„Ich sehne mich nach Normalität. Hier bleibt alles liegen, ich komme zu nichts, da ich nur am Arbeiten, essen machen und unterrichten bin. Sonst komme ich zu gar nichts.“ (Frau, 39 Jahre, verheiratet, drei Kinder, berufstätig):

Die größten Veränderungen hat der Krisenmodus in unserem Dorf wohl für Familien mit sich gebracht. Schon in normalen Zeiten ist deren Leben meist recht stressig: Oft sind beide Elternteile berufstätig, die Kinder sind zumindest vormittags versorgt in der Kita oder in der Schule, Großeltern sind als Betreuungsinstanz fest eingeplant. Nun sind die Kinder zu Hause, die Eltern haben Home-Office, die Kinder Home-Schooling, und die Großeltern fallen wegen ihrer Zugehörigkeit zur Risikogruppe meist aus. Mütter, die ihre Kinder sonst bei schulischen Misserfolgen trösten, sollen nun in die Rolle der Lehrerin wechseln und ihren Kindern zum Beispiel in das Wesen der Subtraktion einführen. Oft führt das zu Streit.

„Jeder Tag ist schon berufstechnisch eine Herausforderung“, schreibt mir ein Vater über WhatsApp. „Dazu kommt die deutlich erhöhte Stress-Situation in und mit der Familie, denn die Kids haben mittlerweile auch vermehrt Stress und gehen schon bei Kleinigkeiten an die Decke.“ Unsere Kita bietet eine Notbetreuung für Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen an. An manchen Tagen sind zumindest zwei Erzieherinnen schon morgens um 5.30 Uhr in der Kita, die letzten beiden gehen um 21.00 Uhr. In der Krise zeigt sich, wie wenig stabil die Work-life-balance vieler Familien ist und wie sehr Lebensentwürfe zurzeit an ihre Grenze kommen, die schon in normalen Zeiten eng getaktet und anstrengend sind. Für dieses Problem haben wir als Kirche keine Antwort, außer einer – für die meisten nicht nachvollziehbaren – generellen Systemkritik.

„Es ist alles so langweilig.“ (Flüchtling, 23 Jahre, alleinstehend):

Wen die Einschränkungen neben den Familien besonders hart treffen, das sind unsere Flüchtlinge. Aus hygieneschutztechnischen Gründen kann zur Zeit der tägliche Deutschkurs in unserem Gemeindehaus nicht stattfinden. Das bedeutet für die Flüchtlinge: Keine geordnete Tagesstruktur, kein Zusammensein mit anderen Flüchtlingen und Einheimischen, keine Fortschritte bei der sprachlichen und beruflichen Integration.

Die muslimischen Flüchtlinge müssen im derzeitigen Ramadan auch auf das gemeinsame Fastenbrechen nach Tagesschluss verzichten. So bedeutet die Corona-Zeit für die Flüchtlinge vor allem Nichtstun und Langeweile.

Pastorin Annette Wendland kommuniziert täglich über WhatsApp mit einzelnen Flüchtlingen. Wo das möglich ist, wird auch mal digital unterrichtet. Dennoch führt dieser Stillstand und auf sich selbst zurückgeworfen werden dazu, dass bei manchen Flüchtlingen Probleme neu aufbrechen. In einem Fall hat dies bei einer jungen Frau zu einer ausgewachsenen Depression mit konkreten Suizidgedanken geführt. Auch die Familie im Kirchenasyl und die sie betreuenden Menschen leiden unter der andauernden Ungewissheit, da das BAMF zurzeit keine Entscheidungen über Härtefälle trifft. 

Merke: Was in „normalen“ Zeiten nicht zufriedenstellend geregelt ist, wird in Krisenzeiten erst recht zum Problem.

„Ich führe auch jetzt ein sehr privilegiertes Leben“. (Pfarrer, 62 Jahre, verheiratet, drei erwachsene Kinder):

Ich traue es mich kaum zu sagen, aber natürlich führe ich in meiner Situation auch zurzeit ein sehr angenehmes Leben: Ich arbeite spürbar weniger, bekomme aber trotzdem das volle Gehalt. Das heißt: Die Sorgen der Menschen, die mit Kurzarbeit-bedingten finanziellen Einschränkungen zu tun haben oder als kleine Gewerbetreibende gar keine Einkünfte mehr haben, kann ich kaum nachvollziehen. Meine Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Das heißt, den Stress, den Eltern mit Home-Schooling und vor Langeweile gereizten kleinen Kindern haben, kenne ich nur aus Erzählungen. Alle meine Familienangehörigen sind gesund, auch meine Mutter im Altenheim, die ich nun auch wieder besuchen darf.

Die Diskrepanz meines derzeitigen Ergehens zu dem vieler anderer Menschen wird mir bewusst, wenn ich versuche, mit anderen über die vielleicht halbwegs „positiven“ Seiten der Situation zu reden. Diese ansatzweise „positiven Aspekte“, zum Beispiel im Blick auf die Erholung des Klimas oder die Entschleunigung des persönlichen Lebens möchte man vielleicht auch in eine Nach-Corona-Zeit hinüberretten. „Man muss es sich aber auch leisten können“, meinte dazu recht trocken ein Presbyter.  

Zurück
Erstellungsdatum: 14.05.2020