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Wie kann direkte Demokratie funktionieren? Ilan Siebert referiert

„Demokratie-Innovation“ – so nennt sich der Verein, den Ilan Siebert im Rahmen des Evan-gelischen Sozialseminars in Lienen am 14. Mai vorstellte. Viele interessierte und diskussionsfreudige Teilnehmer hatten sich im Gemeindehaus eingefunden. Das freute die Organisatoren sehr – war der Referent doch extra aus Berlin angereist. Der Verein hat das Motto „Es geht LOS!“ und engagiert sich für zufällig gewählte Bürgerräte auf Bundesebene.

Hintergrund ist die verbesserte und fundierte Entscheidungsfindung besonders bei sehr kontrovers diskutierten Themen. Bevor an dieser Stelle mehr zum Verfahren der Wahl von Bürgerräten erklärt wird, zunächst kurz etwas zur Demokratie. Was ist das eigentlich?

Das Wort Demokratie stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt "Herrschaft des Volkes".  Sie wurde von ihren Erfindern als direkte Demokratie praktiziert: Die freien Männer - nur sie galten damals als das Volk - versammelten sich auf dem Marktplatz ihres Stadtstaates und beschlossen dort unmittelbar selbst über alle politischen Fragen.
Diese Marktplatzdemokratie ist in den heutigen Großstaaten nicht mehr möglich. An ihre Stelle ist die repräsentative Demokratie getreten. Vom Volk auf Zeit gewählte Vertreter/innen (Repräsentant/innen) entscheiden als Treuhänder/innen für das Volk die laufenden politischen Fragen. Zur Idee der aktiven Bürgergesellschaft gehört die Mitgestaltung von politischen Entscheidungsprozessen durch die Bürger/innen. Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volke aus.

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist in einer Art repräsentativer Demokratie organisiert. In der Synode, also dem Parlament der evangelischen Kirchen, treffen sich in der Regel einmal jährlich 120 Parlamentarier/innen aus 20 evangelischen Landeskirchen. Sie beraten, sie stimmen ab, sie bilden Ausschüsse für Theologie, für das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und für das Kirchenrecht, also auch für ihre Verfassung. Und sie wählen. Ein Bischof (als Vorsitzende/r des 20-köpfigen Rates) und ein/e Nichttheologe/in  als Präses – so sieht für Protestanten eine gute Kirchenspitze aus.

In letzter Zeit mehren sich allerdings Meldungen, die Bevölkerung sei mit der Demokratie aktuell unzufrieden. In der politischen „Debatte“ wird der Ton rauer, Vertrauen geht verloren. Die Entscheidungsprozesse erscheinen vielen zu praxisfern, von oben aufgesetzt oder lobbygesteuert. Leider macht die steigende Komplexität unseres Lebens im Lichte der Globalisierung und Digitalisierung es vielen Wähler/inne/n immer schwerer, eine Partei zu identifizieren, von der sie sich vertreten fühlen. Nur noch 2,5 % der Deutschen sind Mitglied in einer politischen Partei. Wenn die Demokratiemüdigkeit jedoch zu stetig sinkenden Wahlbeteiligungen führt, erhalten oft eher extreme Außenpositionen einen unangemessenen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse.

Fazit: Viele Menschen fühlen sich einerseits überfordert, andererseits nicht mehr repräsentiert. Hier setzt „Demokratie-Innovation“ an. Denn obwohl es auch in der deutschen repräsentativen Demokratie Elemente der direkten Demokratie gibt (die Verfassungen aller deutschen Bundesländer sehen Volksentscheide vor, Bayern und Hessen auch ein Referendum bei Verfassungsänderungen), ist dies für die Macher von „Es geht LOS!“ zu wenig.

Für sie ist ein Volksentscheid auch nicht zwingend der richtige Weg. Leider können hier starke Interessengruppen solche Kampagnen für ihre Zwecke nutzen. Es besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung in eine Ja- und eine Nein-Fraktion gespalten wird, wobei keine der angebotenen Alternativen das Problem behebt. Die Gräben vertiefen sich, eine sachliche Meinungsbildung findet eher nicht statt.

Dem setzen der Referent und seine Mitstreiter die Idee der nach dem Zufallsprinzip gewählten Bürgerräte entgegen. Dies ist keine komplett neue Erfindung. Bürgerräte werden in anderen Ländern schon erfolgreich eingesetzt. Die Idee ist, dass zufällig gewählte Mitbürger/innen sich zu einem Thema an fünf Wochenenden treffen und sich in einem professionell moderierten Verfahren und mit Hilfe von fachlichen Inputs verschiedener Experten dem Thema von verschiedenen Seiten her nähern, sich eine Meinung dazu bilden und dann am Ende eine Entscheidungsempfehlung an die Politik geben. Diese wäre nicht gezwungen, die Entscheidung des Bürgerrates 1:1 zu übernehmen. Aber wenn eine andere Entscheidung gefällt wird, dann muss dies gut begründet werden.

In Deutschland wird diese Art der Bürgerbeteiligung auf der Ebene der Länder und des Bundes eher selten zur Anwendung. Ein positives Beispiel: das Bundesumweltministerium hat in im Jahr 2016 in sechs großen Städten Bürgerräte erfolgreich einberufen. Die von den Bürgern erarbeiteten Empfehlungen wurden in das „Umweltprogramm 2030“ aufgenommen.

Leider ist es ein mühsamer Weg hin zu einem verbindlichen Einsatz von Bürgerräten auf Bundesebene. Dies würde mittelfristig eine Änderung der Verfassung erfordern. Das bedeutet, die Politik muss das wollen. Und auch Gelder dafür zur Verfügung stellen, denn den Bürgern muss zumindest ihr Aufwand (Fahrtkosten etc.) erstattet werden. Zudem braucht es eine Menge ausgebildeter Moderator/innen und zu jedem Thema müssen entsprechende Expert/innen identifiziert, für den jeweiligen Prozess verpflichtet und bezahlt werden.

Das Fazit des Referenten Ilan Siebert fiel denn auch gemischt aus. Er gab zu, dass er den Prozess zur Zeit der Vereinsgründung vor wenigen Jahren noch wesentlich optimistischer eingeschätzt hatte. Aber aus seiner Sicht gibt es keine Alternative zu den Bürgerräten. Darum kooperiert man auch in einem bisher einmaligen Modell-Projekt mit dem bundesweit aktiven Verein „Mehr Demokratie e.V.“. Für 2019 soll ein Bürgerrat zur Zukunft unserer Demokratie einberufen werden. Die Macher sind überzeugt: Es kann gelingen, unsere Demokratie so weiterzuentwickeln, dass der dramatisch hohe Anteil der Unzufriedenen wieder sinkt.

Demokratie lernen – dafür bieten sich ja eigentlich unsere Schulen an. Dieser Idee folgend hat der Berliner Verein „politik-digital e.V.“ das Projekt AULA entwickelt. Es handelt sich um ein für Schulen konzipiertes ein innovatives Beteiligungskonzept, das mithilfe einer Online-Plattform und didaktischer Begleitung die demokratischen Praktiken und Kompetenzen der Jugendlichen fördert. Sie lernen auf diese Art und Weise, dass sie mit Engagement und Verantwortung ihren Lebensraum gestalten und verändern können.

Und die Kirche? Kirchenvertreter/innen beteiligen sich an vielen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. Schließlich repräsentieren Sie ja immer noch einen Großteil der Bevölkerung und gemeinsame Werte. Zur direkten Beteiligung der Gläubigen an innerkirchlichen Entscheidungen findet man jedoch wenig. Derzeit bleibt hier offensichtlich auch nur der Weg über die gewählten Ämter in die entsprechenden Gremien. Vielleicht würde es Sinn machen, dass die Kirchen auch einmal über zufällig gewählte Räte zu bestimmten Themen nachdenken.

Text: Dr. Anja Oetmann-Mennen

 

Interessante Webseiten zum Thema:

https://www.esgehtlos.org/

https://www.mehr-demokratie.de

https://aula-blog.website/

https://www.buergergesellschaft.de

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