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Gedanken zu Palmsonntag

Superintendent André Ost legt den Predigttext zu Markus 14,1-9 für den Palmsonntag am 5. April 2020 aus. Das Leben ist voller Ambivalenzen und Kontraste. Man kann die Dinge meist so oder so beurteilen. Was ist das Richtige, was ist gerade dran? Die Verse aus dem Markus-Evangelium helfen dabei und zeigen uns die Richtung an. Denn eines ist wohl nie verkehrt: Wenn das, was wir tun, aus Liebe geschieht.

Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der Ungesäuerten Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie Jesus mit List ergreifen und töten könnten.

Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.

Als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls?

Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.

Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.

Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

(Markus 14,1-9)

 

„Eine Minute Applaus für die Pflege“.

Am vergangenen Sonntag wurde dazu aufgerufen, den Pflegekräften in unserem Land besondere Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Um Punkt 12 Uhr sollte der Applaus aus Fenstern, von Balkonen und aus Gärten zu hören sein. Mit langem Fenster-Applaus hatten sich zuvor schon viele Menschen in verschiedenen Städten bei denen bedankt, die in dem gegenwärtigen Kampf gegen das Coronavirus besonders an ihre Grenzen gehen müssen: Ärzte und Pflegekräfte, die sich in diesen Wochen unermüdlich für den Schutz und die Gesundheit von Patienten und Heimbewohnern einsetzen. In den sozialen Netzwerken war dazu aufgerufen worden. Viele haben sich daran beteiligt und haben aus vollem Herzen den Dank ausgesprochen, der diese Berufsgruppe viel zu selten erreicht.

„Wir wollen euren Applaus nicht“, hielten einige der so mit Beifall Bedachten dagegen. Der Applaus kam ihnen irgendwie heuchlerisch vor. Entschuldigt sich da womöglich eine ganze Gesellschaft dafür, dass sie das Gesundheitswesen in den letzten Jahren immer stärker den Marktgesetzen unterworfen hat? Dass sie die ganze Last der Patientenbetreuung den wenigen und obendrein in der Regel noch schlecht bezahlten Pflegekräften überlassen hat? Der Dank hat nur dann eine nachhaltige Wirkung, so argumentierten sie, wenn er langfristig in eine auch finanziell spürbare Anerkennung mündet.

Auch andere Berufsgruppen erfahren in diesen Krisenzeiten unerwartete Wertschätzung: Lagerarbeiter, Supermarktkassiererinnen, Müllmänner, Paketboten, Erzieherinnen. Sie alle gelten in diesen Tagen als systemrelevant. Sie werden gebraucht und halten die allgemeine Daseinsfürsorge am Laufen. Die Gesellschaft merkt auf einmal, was sie an diesen Menschen hat, die sie mit dem Nötigsten versorgt. Gerade jetzt, wo das öffentliche Leben ansonsten fast gänzlich auf Null heruntergefahren ist.

Aber auch da mischen sich Bedenken in den Chor des allgemeinen Beifalls: Warum fällt uns das erst jetzt auf, dass Menschen in diesen Berufen eine tragende Bedeutung für das Funktionieren unseres Gemeinwesens haben? Warum sind die Berufe, die uns jetzt in dieser Krisenzeit als systemrelevant gelten, ausgerechnet diejenigen, die im Normalfall am schlechtesten bezahlt sind? Was stimmt da eigentlich nicht in unserer Gesellschaft?

Und was heißt hier eigentlich systemrelevant? Sind andere Berufe, die jetzt zwangsweise Pause machen, nicht genauso bedeutsam für unser Zusammenleben? Der Mensch lebt doch nicht nur vom Brot allein. Besteht das Leben nicht auch aus anderen wertvollen Dingen? Sind Kunst, Kultur und Religion, die jetzt lediglich – aus nachvollziehbaren, vernünftigen Gründen – zur Untätigkeit genötigt sind, nicht ebenso systemrelevant?

Man kann die Dinge immer aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Es gibt nicht die eine allgemeingültige Sicht. In der gegenwärtigen Corona-Krise ist es besonders schwer, den richtigen Beurteilungsmaßstab zu finden für das, was gerade mit uns geschieht. Eine solche Situation, die alle Länder auf dieser Erde gleichzeitig betrifft, hat es noch nicht gegeben. Für die zu treffenden politischen Entscheidungen - ob sie richtig sind oder falsch, angemessen oder übertrieben - gibt es kein Drehbuch. Die Weltfamilie muss sich in Solidarität üben, weil sie durch die globalen Zusammenhänge doch schon längst zu einer Schicksalsgemeinschaft verwoben ist. Die Coronakrise zu bewältigen bleibt für uns alle ein Experiment, ein medizinischer Notfall, auch eine ethische Herausforderung. Da kommt man nicht ohne Ambivalenzen aus, vermutlich auch nicht ohne Schuld.

Um das Thema der Kontraste und um das Schuldigwerden geht es auch am Palmsonntag. Das Thema wird dichter, je näher wir dem Karfreitag kommen, dem Höhepunkt der Passionszeit.

Das Evangelium des Palmsonntags schildert uns die Ambivalenzen ganz deutlich: Hier die jubelnde Menge, die Jesus beim Einzug in Jerusalem freudig begrüßt: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“, rufen die Menschen ihm zu, als er auf einem Esel in die Stadt einreitet, in der er wenige Tage später zu Tode kommt.

Und dort diejenigen, die ihm schon zu diesem Zeitpunkt nach dem Leben trachten: Sie schmieden einen Plan, wie sie ihn mit List ergreifen und töten können.

Aber bevor es dazu kommt, ist Jesus erst noch im Haus des Simon in Betanien zu Gast. Interessant, dass diese Episode im Markus-Evangelium an so herausgehobener Stelle, ganz am Beginn der Passionserzählung, steht. Diese Szene ist die letzte Ruhepause, die Jesus vergönnt ist, bevor sein Leidensweg beginnt.

Er ist zum Essen eingeladen. Da platzt auf einmal eine Frau in die Tischrunde hinein und tut etwas, womit niemand rechnet: Sie geht geradewegs auf Jesus zu und gießt ihm den Inhalt eines kleinen Gefäßes über den Kopf. Es ist kostbares Nardenöl. Die Frau will Jesus mit dieser Geste ehren, sie will ihm etwas Gutes tun. Das merkt er sofort. Er wehrt sich nicht. Er nimmt dieses Geschenk an.

Ganz anders die anderen, die es mitbekommen: Was soll das denn? So ihre Reaktion. Was fällt ihr ein! Und vor allem: Was für eine Verschwendung!

Sofort ist allen die Werthaltigkeit dieser besonderen Zuwendung klar: Sie können es in Zahlen verrechnen. Das Öl ist mehr als 300 Silbergroschen wert. Das entspricht dem Anderthalbfachen eines durchschnittlichen Jahreslohns. Und daraus folgern sie ihr Urteil: Verschwendung!

Was hätte man mit dem Geldwert dieses kostbaren Öls nicht alles anfangen können! Den Armen hätte man es geben können. Die Almosengabe war damals ein ganz wichtiger Brauch kurz vor dem Passafest. Darum sind sie an dieser Stelle auch alle so empört. Die Tat dieser Frau spricht der üblichen Gepflogenheit, vor dem Passafest an die Bedürftigen zu denken, Hohn, so sind sie überzeugt. Das gehört sich nicht.    

Jesus sieht es erstaunlicherweise anders. Nicht etwa, weil ihm diese besondere Form der Anerkennung schmeichelt. Sondern weil er sie zu deuten weiß. Weil er hier hellsichtiger ist als alle anderen: Ihr wundert euch vielleicht über das großzügige Zeichen dieser Frau und haltet es für übertrieben, meint er. Ich aber weiß, dass sie ein gutes Werk an mir getan hat. Denn Armen könnt ihr jederzeit etwas Gutes tun. Die Gelegenheit dazu habt ihr jeden Tag. Mich aber habt ihr nicht mehr lange bei euch.

Jesus sieht dabei schon auf das Ende seines Weges: Diese Frau hat mich im Voraus gesalbt für mein Begräbnis, sagt er in erstaunte Gesichter. Und darum verdient sie Anerkennung und keine Zurückweisung. Wann immer man sich an diese Geschichte erinnert, wird man auch an diese Frau denken, deren Mut in dieser Situation eine Tat aus Liebe war.

Und so schlägt die Passionsgeschichte an dieser Stelle einen bemerkenswerten Bogen. Am Anfang und am Ende der Passionsgeschichte sind es Frauen, die die wichtigen Akzente setzen: Sie geben Jesus die Zuneigung, die ihm von anderer Seite längst entzogen ist. Sie bleiben bis zum Schluss an seiner Seite, wo andere aus Angst um ihr Leben schon weggelaufen sind. Und sie sind die ersten, die von der Auferstehung erfahren, wo andere mit keinem Ostermorgen mehr rechnen.

Ambivalenzen und Missverständnisse allerorten. Auch in dieser Geschichte.

Was ist das nun: Obszöne Verschwendung oder bemerkenswerte Zuneigung? Eine Taktlosigkeit oder ein Zeichen der Liebe? Total unangemessen oder genau das Richtige?

Jesus schützt die Frau vor unangemessener Kritik. Er lässt es zu, von ihr berührt zu werden.

Er, der sonst anderen Zuwendung gibt, indem er sie aufsucht in ihren Häusern, indem er mit ihnen isst, mit ihnen spricht und ihnen damit Anerkennung und Würde gibt: Er kann es zulassen, auch selber berührt zu werden. Was hier geschieht, ist ein Austausch im Geben und Nehmen in Liebe.

Jesus schenkt seinem Gastgeber Aufmerksamkeit, Simon dem Aussätzigen (!). Einem Menschen, dem vermutlich nicht viele begegnen wollen. Einem Ausgesonderten in häuslicher Quarantäne womöglich. Interessant, wie dieses kleine Detail der Geschichte plötzlich zu sprechen beginnt in dieser Zeit. Und dann wird ihm, dem Stifter von Sinn und Zuwendung, selber Zuneigung zuteil durch die unverschämt liebevolle Tat dieser Frau.

Es ist Liebe, sagt Jesus unumwunden und gibt der ambivalent empfundenen Situation damit eine klare Deutung. Wo Liebe ist, da fragt man nicht, ob es sich lohnt. Wie hoch der Einsatz ist und was es kostet. Die Liebe rechnet nicht. Und sie sollte auch nicht in Zweifel gezogen werden. Wo etwas aus Liebe geschieht, sollten wir staunen und verstummen.

So ging es mir, als ich vor etlichen Tagen in einem Fernsehbericht von einem älteren Mann erfuhr, der es nicht ertragen konnte, seine Frau nicht mehr im Pflegeheim besuchen zu können. Also entschloss er sich, zu ihr ins Altenheim zu ziehen. Er sagte: „Wir sind ein ganzes Leben zusammen gewesen. Ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen. Wir hatten ein schönes Leben. Ich habe keine Angst.“ Und so schloss sich hinter ihm die Tür zur Außenwelt. Aber er ist bei seiner Frau in dieser schweren Zeit.

Wir sollten uns in diesen Tagen möglichst nicht berühren, heißt es. Wir dürfen uns nicht zu nahe kommen. „Social Distancing“ ist angesagt im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus. Das ist eine echte Herausforderung. Es bedeutet aber nicht, auf das zu verzichten, was uns Menschen genauso wichtig ist wie das tägliche Brot: Anerkennung und Liebe.

Mehr als alles andere ist die Liebe „systemrelevant“ in unserem Leben. Sie hilft uns in diesen Tagen über den Berg. In der sozialen Isolation werden wir plötzlich wieder sehr gesellschaftlich. Wir lernen so wieder zu schätzen, was uns verloren gegangen ist. Wir lernen auch die zu beachten, die wir aus den Augen verloren haben. Dagegen ist nichts einzuwenden. Auch nichts gegen eine Minute Applaus für die Pflege, finde ich.     

   

Gebet

Wir bitten für alle am Corona-Virus Erkrankten,
für alle, die um ihr Leben kämpfen.
Für alle, die in den medizinischen und pflegerischen Berufen
für die Kranken und für alte Menschen im Einsatz sind.

Wir beten für alle,
die um ihren Arbeitsplatz fürchten oder in ihrer Existenz bedroht sind.
Für alle, die im Dienst für uns und die Gesellschaft
gerade auch in der Krisenzeit arbeiten – oft unter erschwerten Bedingungen.

Wir beten für die Menschen in den vielen Ländern
mit einem nur wenig ausgebauten Gesundheitssystem.
Für Arme weltweit
und für Menschen ohne Obdach bei uns,
denen schon die Einhaltung von Hygieneregeln nur schwer möglich ist.

Wir beten für alle Menschen auf der Flucht,
besonders für die auf den griechischen Inseln.
Für alle, die vor Ort,
mit begrenzten Möglichkeiten und trotz Anfeindungen helfen.
Für alle, die angesichts der Not ihre Ohnmacht spüren.

Wir bitten für die Christinnen und Christen,
die sich zu Gebet und Gottesdienst verbinden,
auch ohne dass wir zusammenkommen können;
und für alle, die dafür zu neuen kreativen Wegen einladen.

Wir beten für alle, die es nur schwer aushalten können,
zu Hause allein oder nur mit der Familie zusammen zu sein.
Besonders für die vielen tatsächlich oder vielleicht Corona-Infizierten
in strenger Quarantäne.

Wir bitten für uns selbst in unseren Nöten
und mit den Sorgen um Menschen in der Familie und im Bekanntenkreis.
Für unsere Toten und alle, die um sie trauern.

Du, Gott, begleitest uns auf allen Wegen.
Du führst uns durch den Tod zum Leben.
Dich loben und preisen wir jetzt und allezeit.

 

Wir beten mit der ganzen Christenheit auf Erden: 

Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute,
und vergib uns unsre Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit
in Ewigkeit.
Amen.

 

Links:  

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Erstellungsdatum: 29.03.2020