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Armut in Deutschland hat viele Gesichter - Vortrag beim „Talk am Dienstag“ in Lotte

Die Evangelische Erwachsenenbildung im Kirchenkreis Tecklenburg und die Kirchengemeinde Lotte hatten am 10. Oktober 2023 in Zusammenarbeit mit der Bürgerstiftung des Ortes zu einem Vortrag mit dem Thema „Armut in Deutschland - Analysen, Herausforderungen, Handlungsmöglichkeiten“ eingeladen. In der Reihe „Talk am Dienstag“ legte Prof. Dr. Traugott Jähnichen von der Ruhr-Universität Bochum (RUB) dar, wie Armut in Deutschland heute von den Betroffenen erlebt wird und was dagegen getan werden müsste.

Pfarrer i. R. Detlef Salomo moderierte die Veranstaltung, begrüßte die etwa 30 Besucher in der „Arche“ und stellte den Referenten vor. Die Bürgerstiftung habe das Ziel, im kommunalen Bereich etwas zu bewegen, erläuterte deren Geschäftsführer Dieter-Joachim Srok. Dazu werden viele Projekte realisiert, wie Aktionen zum Kindertag oder die Ukrainehilfe.

Detlef Salomo verwies zum Einstieg mit dem Gedicht „Weltlauf“ auf Heinrich Heine, der soziale Ungerechtigkeit anprangerte und sich mit den Erniedrigten sozialisierte. Aktuelle Berichte der Hilfsorganisation Oxfam und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes belegten, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößere, so der Pfarrer.

Professor Jähnichen leitet den Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der RUB. Er gliederte seinen Vortrag in die drei Kapitel: Sehen – Urteilen – Handeln. Armut sei ebenso wie Reichtum ein schillernder Begriff, für den es keine einheitliche Definition gebe. Die materielle Dimension sei zwar der wesentliche Aspekt für die Begriffsbestimmung, aber keineswegs der einzige. Ebenso wichtig seien Bildung, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit oder kulturelle und politische Teilhabe.

Im Verlauf seiner Ausführungen erklärte der Referent, wie Armut zu sozialer Ausgrenzung führt. Dadurch würden Handlungsspielräume in gravierender Weise eingeschränkt. Integration in Vollbeschäftigung sei eine wesentliche Sicherung vor Armut, die jedoch aufgrund von Krankheit oder Alter nicht jeder leisten könne. Er plädierte für eine Erhöhung der Steuerfinanzierung sozialer Absicherung und jonglierte mit vielen Zahlen, Grafiken und Tabellen, die das Gesagte unterstrichen.

Die gängige Armutsgrenze liege bei „60 Prozent des mittleren Einkommens“. Letzteres sei jedoch differenziert zu betrachten und von verschiedenen Faktoren, beispielsweise der Größe der Familien, abhängig. Im Jahr 2021 galten 16,6 Prozent der Bevölkerung in Deutschland als arm. Besonders betroffen waren Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende sowie ältere Menschen, darunter besonders viele Frauen. Auch Menschen „ohne Papiere“ gehörten dazu. Das Problem der Einkommensungleichheit zeige sich besonders in Ostdeutschland. Es mache anfällig für extreme Positionen, stellte der Wissenschaftler fest. Die Schaffung einer gesellschaftlichen Infrastruktur und Verbesserungen im Lebensumfeld könnten dem entgegenwirken. Dabei sollten Diakonie und Kirchen eingebunden werden. Herausforderungen wie der hohe Niedriglohnsektor mit der Notwendigkeit der „Aufstockung“, Bedeutungsverlust familiärer Bindungen oder demografischer Wandel müsse die Gesellschaft meistern, um auch künftig den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, so der Referent weiter.

Anschließend diskutierten die Teilnehmenden teilweise kontrovers über die Handlungsmöglichkeiten, um Armut vorzubeugen und zu verhindern. Der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, sei zu gering, stellten sie fest. Es könnte weniger Beamte geben, denn die Bezüge der Rentner und Pensionäre gingen zu weit auseinander. Armut müsse durch eine ordentliche Infrastruktur und nicht durch Transferleistungen bekämpft werden, forderte ein Teilnehmer. Fragen eines bedingungslosen Grundeinkommens, von wertschätzender Unternehmenskultur, höheren Löhnen, Preisbremsen für Lebensmittel oder Steuererhöhungen für Reiche wurden angesprochen. Aus christlicher Sicht sei Armut auch eine Frage der Gesinnung, denn es gebe wichtigere Dinge als Besitz, argumentierte Detlef Salomo.

Text: Brigitte Striehn

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