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Sind die Friedenstauben müde geworden? Ein Plädoyer für einen differenzierten, situationsbedingten Pazifismus

„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“ Diese pazifistische Parole stand vor Jahren in Hamburg an einer Mauer. Es war das Graffiti eines Friedensaktivisten, sinnigerweise auf der Wand eines ehemaligen Bunkers.

Ja, es ist Krieg, Soldatinnen und Soldaten gehen hin, einberufen, verpflichtet, gezwungen oder freiwillig. Noch immer fällt es mir schwer zu begreifen, dass etwas Schlimmes, Grausames und Unfassbares geschieht – ein brutaler Krieg in unserer Nachbarschaft, in Europa, auf unserem Kontinent.

Als junger Mann habe ich den Kriegsdienst verweigert. Es war meine persönliche Ablehnung militärischer Gewalt. Mit vielen Friedensbewegten vertrat ich die Auffassung „Frieden schaffen ohne Waffen“. Eine friedliche und gerechte Welt, in der wir ohne Rüstung und Atomwaffen leben, sollte das globale Ziel sein. Daran möchte ich auch weiterhin festhalten, bin aber auch skeptischer geworden. Ist ein radikaler Pazifismus angesichts des brutalen Kriegs in der Ukraine noch vertretbar? Von sich selbst kann man Gewaltfreiheit und Wehrlosigkeit fordern, aber darf man das auch von anderen verlangen? Ist ein Pazifismus denkbar ohne Solidarität mit den Bedrohten und Betroffenen? Es geht doch zuerst um die Menschen in der Ukraine. Für sie bedeutet der Krieg Bombardierung ihrer Wohnhäuser, Flucht, Verschleppung, Zusammenbruch der Wasser- und Stromversorgung. Er bringt ihnen den gewaltsamen Tod von Kindern, Nachbarn, Ehemännern, begleitet vom Sirenenlärm Tag und Nacht.

Wer als Pazifist die Bilder sieht, die uns aus der Ukraine erreichen, hat wohl kein empfindsames Herz, wenn er ohne Selbstzweifel und Irritationen bleibt. Es ist eine bittere Wahrheit: Mit einem radikalen Pazifismus lässt sich ein rücksichtsloser Despot nicht aufhalten! Schon bei Friedrich Schiller findet sich die bittere Erfahrung: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Pazifismus kann nicht heißen, dass wir aus einem sicheren Land den Ukrainern empfehlen: Greift nicht zu den Waffen! Bitte ergebt Euch! Leistet nur gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam! Der Pazifist Albert Einstein differenzierte zwischen einem „vernünftigen Pazifismus“ und einem „verantwortungslosen Pazifismus“. Es gibt berechtigte Zweifel an den Waffenlieferungen, da zu befürchten ist, dass sie eine weitere Eskalation befördern und damit die Kriegslogik bestimmend wird.

Wir Pazifisten müssen uns aber auch fragen, welche Möglichkeiten der Ukraine sonst bleiben, und wie sie sich in diesem Vernichtungskrieg ohne Waffen verteidigen sollen? Vielleicht geht es zurzeit nur so, dass wir der Ukraine Abwehrwaffen zur Verfügung stellen, um die Aggression zu beenden, um Schlimmeres zu verhüten. Vielleicht machen wir jetzt einen Umweg: Kurzfristig Frieden schaffen mit Waffen, aber langfristig an dem Ziel „Frieden schaffen ohne Waffen“ festhalten. Das wäre eine differenzierte, situationsbedingte Haltung, ohne sich vom Pazifismus zu verabschieden. Die Option der Gewaltfreiheit weiterhin vertreten und zugleich den Menschen in der Ukraine die notwendige Hilfe nicht verweigern.

Der ehemalige Journalist Franz Alt nennt es „Realpazifismus“. Dieser Gedanke findet sich bereits in der evangelischen Tradition. Wenn meine Nachbarn in Bedrängnis geraten und um Hilfe rufen, dann werde ich mich nicht taub stellen oder über ethische Grundsätze debattieren, sondern ihnen schlicht und ergreifend beistehen. Im großen Katechismus schreibt Martin Luther zum 5. Gebot „Du sollst nicht töten“: Dieses Gebot übertritt auch der, „der den Nächsten schützen und retten kann, dass ihm kein Schaden am Leib widerfahre, und er tut es nicht“. Eine praktische Beistandspflicht aus Nächstenliebe! Dietrich Bonhoeffer setzte gegen Hitlers aggressive Kriegsrhetorik einen strikten Pazifismus. Später stand er in Verbindung mit den Verschwörern des 20. Juli. „Dem Rad in die Speichen fallen“, wenn das Recht unter die Räder kommt. Das war die Konsequenz seiner persönlichen Gewissensentscheidung gegen Krieg und Gewalt. Zwei verschiedene Situationen und zwei gegensätzliche Antworten, aber ein christliches Zeugnis.

Joachim Gauck sagte zu den Waffenlieferungen: „Als Christen, als Demokraten, die die Freiheit und das Recht lieben, dürfen wir das. Das Böse existiert. Und es ist kein Zeichen von Toleranz, so zu tun, als wäre das Böse nicht zu erkennen.“ Aber es ist und bleibt auch ein ethisches Dilemma. Denn jede Entscheidung hat eine dunkle Seite, birgt auch Risiken, dass Eingreifen und Beistehen genauso wie das Geschehen lassen und Raushalten. Jede Entscheidung macht auch schuldig: Die unterlassene Hilfeleistung genauso wie die Lieferung von Waffen, die Menschen töten.

Der Krieg ist und bleibt eine äußerst brutale Gestalt des Bösen – und es ist wichtig, dass wir als Christen darauf hinweisen -, aber es darf auch im Krieg niemals vergessen werden, den Weg der Verständigung und der Versöhnung zu suchen. Gerade das sollte auch weiterhin die Aufgabe der Kirchen und der Politik sein, um ein Schweigen der Waffen zu erreichen. Für besonders bedenklich halte ich deshalb die lauten Stimmen aus Russland, der Ukraine und dem Westen, den Krieg gewinnen zu wollen. Dann wird das Töten weitergehen, die Eskalation der Gewalt zunehmen. Nicht weniger bedenklich ist die Meinung, dass der Einsatz von immer stärkeren, besseren Waffen die russische Führung davon überzeugen wird, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei und sie deshalb zu Waffenstillstandsverhandlungen bewegen werde. In beiden Positionen wird den Waffen die Kraft zugetraut, den Konflikt beizulegen.

Neben der christlichen Perspektive, sich nicht von der Kriegslogik und der Macht der Waffen bestimmen zu lassen, lohnt auch ein Blick in die UN-Charta. Das Selbstverteidigungsrecht ist eingebettet in die Grundzielrichtung, Gewalt zu vermeiden.

„Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ (UN-Charta, Artikel 2)

Text: Pastor i.R. Detlef Salomo, Friedensbeauftragter des Kirchenkreises Tecklenburg

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Erstellungsdatum: 29.08.2023